Die Grafikerin Christina Wildgrube, in Lutherstadt Wittenberg geboren, arbeitete nach ihrem Studium in Berlin, Chicago und Amsterdam u. a. für das Staatstheater Braunschweig. Im September 2018 schloss sie ihr Meisterschüler-Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig mit der Arbeit LAND SETZEN / 11 Druckgrafiken im Handsatz ab.
Die hier vorgestellte Arbeit „314 x“ entstand während ihrer Künstlerresidenz am Goethe-Institut in Chicago 2017 anlässlich des Ausstellungsformats „A little piece of Bauhaus“. „314 x“ bezieht sich auf die vollständige Anzahl der von Walter Gropius entworfenen Einfamilienhäuser in Dessau-Törten. Gezeigt werden die baulichen Veränderungen der Siedlung seit ihrer Fertigstellung 1928 bis heute und deren Interpretation in einer visuellen Bestandsaufnahme.
Zwischen 1926 und 1928 wurde im Auftrag der Stadt Dessau und unter Leitung von Walter Gropius die erste industrielle Reihenhaussiedlung Deutschlands errichtet. Die Siedlung umfasst insgesamt 314 Einfamilienhäuser; wobei jedes Haus zum damaligen Zeitpunkt über eine Wohnfläche von 57 – 76 m2 und eine 350 – 400 m2 große Gartenfläche verfügte. Die Wohnfläche und Fassadengestaltung variierte zwischen den Haustypen I, I.2, II und IV. Die Gestaltung und Bauausführung folgte konsequent neuen Ansätzen und Aspekten wie der Selbstversorgung, finanziellen Erschwinglichkeit, dem rationalisierten Bauen und der Verwendung innovativer Baumaterialien. Die Einheitlichkeit der Siedlung verschwand in den folgenden 60 Jahren mehr und mehr und so das sich jedes Haus zu einem Unikat entwickelte. Vorderfassade, Rückfassade, Garten und Vorgarten veranschaulichen die Überformung gebauter Geschichte. Nicht Gropius allein, sondern mindestens 314 weitere ‚Architekten‘ bzw. Hauseigentümer prägten die Siedlung. Jedes Gebäude steht stellvertretend dafür, wie sich eine Idee und die Wirklichkeit immer weiter voneinander entfernten.
1994 trat eine Erhaltungs- und Gestaltungssatzung in Kraft, die darauf abzielt, bauliche Veränderungen mit der historischen Substanz des Ortsbildes in Einklang zu bringen. Bestandsschutz oder Rückbau bringen damit die Besitzer erneut in die Situation, bauliche Anpassungen zu erhalten oder vorzunehmen. Eine besondere Stellung nehmen hier die der Stadt gehörenden – aber nicht von ihr gepflegten – Vorgärten ein, die vielmehr, fernab jeder Gestaltungssatzung, von den Bewohnern liebevoll mit Blumen, Büschen und Steinen herausgeputzt werden.
Während der Künstlerresidenz am Goethe-Institut erarbeitete und vermittelte Christina Wildgrube anhand von eigenem mitgebrachtem „work in progress“ Foto- und Videomaterial eine visuelle Bestandsaufnahme der Siedlung und gewann dadurch Einblick in umfassende bauliche Veränderungen der Eigentümer. Entstanden sind eine Mobil-Videoarbeit „Road-Trip Törten“, ein Polaroid-Kalender „Everyday a new Facade“ für die Dauer meines Aufenthaltes am Goethe Institut und eine ca. 2,5 × 4 m große Fotocollage im Empfangsbereich des Instituts als visuelle Essenz aus „Many Gardens and Facades“ der Siedlung.